Online-Redaktion: liesmichnet.de


192 – TANZ - Áqua - Pina Bausch

Impressionen von ÁGUA ein Stück von Pina Bausch from TANZweb on Vimeo.

 Trailer zu "Áqua" - ein Stück von Pina Bausch

 

„Pure Lebensfreude“

Von Dietmar Wolfgang Pritzlaff

Das sogenannte Brasilien-Stück war zuletzt 2016 in Wuppertal zu sehen. Das Stück entstand nach einer Reise des Tanztheater Wuppertal nach Brasilien in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Sâo Paulo und Emilio Kalil.
Emilio Kalil ist seit 40 Jahren Kulturunternehmer, leitete Grupo Corpo, war Produzent bei der Bienal de São Paulo und zuletzt Kulturminister der Stadt Rio de Janeiro und Präsident der Fundação Cidade das Artes.

Ein Stückweit erfasst das Werk ÁGUA die brasilianische Lebensfreude, die wohl das Ensemble um Pina Bausch in Brasilien erleben konnte. Spontane Tänze auf öffentlichen Plätzen oder viele Feierwütige in Urwaldatmosphäre. Alles wird hier zum Thema in kleinen Episoden gemacht.
Es wird mit Wasser „geplanscht“, sich gewaschen und nass gespritzt. Wohl ein Hinweis auf ein Land, dass keine Wasserknappheit kennt. Der Urwald ist Dauerthema. Videos von Urwäldern und Wasserfällen werden auf die riesigen weißen Bühnenwände projiziert. Darunter und davor tanzt und spielt das Ensemble.

Das junge Ensemble, muss man schon sagen, denn nur zwei Tänzerinnen tanzten schon in der Uraufführung 2001 mit.
Zum einen sei Julie Shanahan genannt. Die Tänzerin wurde in Australien geboren und tanzte schon im Ensemble um Reinhild Hoffmann, zuerst in Bremen, dann in Bochum. Vor dort kamen die Kontakte zum Tanztheater Wuppertal zustande. 1988 engagierte Pina Bausch die Tänzerin für die Neuproduktion "PALERMO PALERMO".

Nayoung Kim in Südkorea geboren bekam durch Pina Bausch ein Engagement von 1993 bis 1996 im Folkwang Tanzstudio in Essen. 1996 wurde sie zum festen Ensemblemitglied des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Ihr erster Auftritt in einer Neuproduktion war in dem Stück "DER FENSTERPUTZER" von 1997.

Alle anderen Tänzer*innen sind "junge Wilde", die die Rollen der Stücke neu einstudierten. Selbst wenn die jungen Leute keine neuen Pina-Werke selbst einstudieren und ihre Charaktere einbringen, bingen sie doch ihre ganz eigenen Art mit in das "alte" Stück ein.
Wer die Uraufführung in 2001, die Wiederaufnahme in 2011 oder in 2016 eine Aufführung miterleben konnte, der weiß, wovon ich spreche. Man hatte sich an die Tänzer*innen gewöhnt, ihre eigenen Bewegungsabläufe und Mimiken, ihre Rollen, die sie sich selbst nach Fragen von Pina Bausch erarbeitet hatten, die aber immer ein Stückweit mit ihnen zu tun hatten.
Und jetzt muss sich der Zuschauer umgewöhnen. Irgendwann sind die Tänzer*innen doch nicht mehr beweglich genug, um einen 3-Stunden-Tanz-Abend durchzustehen und sind in ihrem wohlverdienten Ruhestand.
Oder doch nicht?
17 Tänzer*innen der früheren Jahre haben bei der Neueinstudierung des Pina-Stückes ÁGUA mitgewirkt. Es werden Rollen noch selbst vorgetanzt und nach Videoaufnahmen rekonstruiert.
Zur Freude des Publikums, das schon wieder eine Generation älter ist oder gerade die Generation, die noch gar keine Gelegenheit hatte, dieses Stück zu sehen. Für all diese, wird dieses Stück ein anderes sein, als für Zuschauer, die schon damals dabei sein konnten.
Jung - frisch - irgendwie anders - und doch ganz das ältere Stück. Einmal mehr fällt auf, dass man sich an manche Tänzer*innen so stark gewöhnt hat, vor allem, wenn man die ganzen Jahre tapferer Pina-Bausch-Fan war, und mitgealtert ist: mit den Stücken und man selbst, und voller Wehmut die "alten" Tänzer*innen irgendwie dann doch vermisst.

Da kommt diese Frischzellenkur für das Stück ÁGUA genau richtig und es macht wie schon in 2001 viel Spaß.
Die Damen bringen ihre bunten, langen und luftigen Kleider zum Wirbeln und Wehen. Die Herren dürfen mal ohne schwarze Anzüge agieren. Bademoden werden ein wichtiges Utensil in diesem Stück. Badehandtücher mit sexy Motiven werden zur Lachmuskel strapazierenden Lachnummer. Das ganze Ensemble in Bademoden räkelt sich später auf weißen Sofas.

 

Ensemble • Foto © Ursula Kaufmann

 

Ensemble • Foto © Ursula Kaufmann



Kreative Spielereien werden gezeigt: Eine Frau steht plötzlich in einem Lichterkettenkleid auf der Bühne, ein Tänzer steht diagonal zu ihr am anderen Ende der Bühne in einem Lichterkettenanzug. Beide lassen die Lichter im Wechselspiel zueinander aufblinken.

Eine Feder wird in die Luft geblasen, Palmblätter werden wie Blüten getragen, Tische werden zum Tanzen gebracht, es wird mit einem großen Blatt gerudert, kleine Fallschirme werden fliegen gelassen und ein verpackter Autoreifen als Geschenk übergeben.

Die Solo- und einige Gruppentänze werden zu den gezeigten Videos fast zur Nebensache, wenn ein Leopard durch den Dschungel schleicht und eine Tänzerin mit spitzen Fingern einen Tanz in langem gelbem Kleid aufführt.




Héléna Pikon • Foto aus der Uraufführung 2001 © Ursula Kaufmann

 


Der Boden und die gewölbten Hinterwände sind weiß. Manchmal heben sich die hinteren Wände um ca. 2 Meter und geben den Blick auf einen im Dunkeln liegenden Palmengarten frei. Sinnbild für den ausgesperrten Urwald, der immer und überall in der Nähe ist. Später im Stück wächst ein Palmzweig auf die Bühne. Erobert sich die Natur ein Stück von dem sterilen weißen Raum zurück? Ein Tänzer wird an dem Ast hangeln, dahinter klettern Orang Utans durch die Baumwipfeln auf einem Videofilm.

Der brasilianische Regenwald ist allgegenwärtig, in Form von Palmen auf der Bühne oder in den vielen Videofilmen und Dias die auf den weißen Wänden und auf den Boden projiziert werden. Man könnte das Werk auch das Video-Stück nennen. Filmprojektionen kamen schon einige vor in den Stücken von Pina Bausch, aber hier sind es auffällig viele. Darunter und davor wird auf der Bühne zu den wunderschönen Landschaften, Tierfilmen und Sonnenuntergangsbildern getanzt und gespielt.
Der Wald wird immer wieder als Film gezeigt werden. Allerdings gibt es im Stück keine Verarbeitung der bedrohlichen Lage des Urwaldes in Brasilien, der durch vehemente Rodung in Gefahr gerät. Hier wird er nur als einmalige Schönheit verehrt und das berührt dann doch wieder, mit dem Wissen der Schändung, die tagtäglich passiert.

Die Musikauswahl ist wieder von exquisiter Qualität. Trommel- und Chill-out-Musik wechseln mit elektronischen Klängen und wehmütigen Liedern.

Auch weiße runde Tische spielen eine lebendige Rolle. Die Tänzerinnen und Tänzer werden auf ihnen kreisende Bewegungen vollbringen und sich samt Tisch im Kreise drehen. Ein Tanz auf Tischen um sich selbst.
Zum Ende werden alle weißen Tische verlassen sein und auf der weißen Bühne verbleiben. Ein schönes Schlussbild.

Ein wundervoll-leichter Tanzabend, bei dem man viel zu lachen und zu staunen hat. Eine tolle Ensemble-Leistung, ein schwungvoller Abend mit einer fröhlichen Leichtigkeit, die man gerne mit nach Hause nimmt. Unbedingt empfehlenswert.

 

Was passiert sonst noch im Stück?

Hier ein paar Episoden aus dem Werk Água -

1.Teil des Tanzabends:

Ein Video zeigt wiegende Palmen. Eine Frau schält eine Apfelsine, ein Mann hält ihr ein Mikrofon hin und macht für die Frau die Geräusche: „Mmmhhh“ und „Ahhh“. Zwei Männer tanzen synchron in schwarzen Anzügen, später tanzen alle Männer völlig synchron. Eine Frau fragt jemand aus dem Publikum woher er kommt. Dann tritt sie einen alten Schuh in die Luft und je nachdem wie dieser Schuh wieder auf der Bühne landet, sagt die Frau das Wetter für den Ort des Zuschauers voraus. Liegt der Schuh auf der Seite bedeutet es, es wird wolkig zum Beispiel in Wuppertal. Steht der Schuh - regnet es in Krefeld. Die Männer schaukeln auf Stühlen sitzende Frauen. Zwei Tänzer werfen sich einen Ast, wie einen Speer, über eine Tänzerin zu. Einige Tänzer springen auf die Kniee der liegenden Tänzer. Die Damen schlagen Rad über den Rücken der knienden Herren. Vier Männer halten eine Tänzerin an Armen und Beinen und lassen sie durch die Luft sich winden und drehen. Zu dem Video der Flussfahrt tanzt ein Tänzer in fließenden Bewegungen. Zwei Frauen mit Hüten begegnen sich mit einem Laut „Haoih“ zur Begrüßung. Zwei Frauen breiten ihre Kleider aus, ein Mann der hinter ihnen schleicht, küsst die Damen abwechselnd. Frauen tragen Tabletts mit Gläsern, Früchten, Süßigkeiten, Sektkübel etc. auf ihren Köpfen und reichen Kaffee in Tassen in das Publikum. Ein Mann verteilt Kaffeebohnen. Ein Hinweis auf das Kaffeeanbau- und Exportland Brasilien. Eine Tänzerin tanzt einen heroisch-majestätischen Tanz in grellem weißem Licht. Zu einem Videofilm mit Flamingos zeigen zwei Tänzerinnen ihre Beine. Die eine Frau singt ein Lied und bürstet sich ihre Beine. Eine Tänzerin tanzt in einem knallroten Kleid, eine andere Tänzerin stört den Tanz der Rotbekleideten immerzu. Zu einem Video mit Segelflößen auf hohen Wellen legen sich zwei Männer auf den Boden und decken sich mit transparenter Folie zu. Eine Tänzerin krabbelt unter eine Folie, setzt sich auf den Tänzer und stöhnt. Eine Palme ragt auf die Bühne. Ein Mann hangelt sich am Stamm der Palme entlang. Die weißen Sofas werden auf die Bühne gerollt. Alle Damen und Herren haben Badesachen an und rekeln sich auf den Sofas. Nach einer Weile halten sich alle ihre Handtücher bedruckt mit Motiven nackter Damen vor ihre Körper und Köpfe, so als seien es ihre Körper und Gesichter. Darauf folgt schallendes Gelächter aus dem Publikum. Das gefällt. Und dann kommt die gehauchte „...Pause.“

2.Teil des Tanzabends:

Julie Shanahan tanzt vor den weißen Sofas zu chilliger Musik und unterbricht sich immer wieder selbst durch Albernheiten. Sie schüttelt sich vor Lachen. Eine Tänzerin fischt sich mit einer Erdnuss am Bindfaden einen Tänzer aus einer der ersten Reihen im Publikum und zieht ihn damit auf die Bühne. Eine Frau steht plötzlich in einem Lichterkettenkleid auf der Bühne, ein Tänzer steht diagonal zu ihr am anderen Ende der Bühne in einem Lichterkettenanzug. Beide lassen die Lichter im Wechselspiel zueinander aufblinken. Eine Frau kämmt sich Federn aus ihrem Haar. Eine Frau legt sich zum Schlafen auf den Boden, wird aber durch die „Urwaldgeräusche“, die von den anderen Tänzern und Tänzerinnen gemacht und immer lauter werden, gestört, so dass sie ärgerlich wieder von der Bühne geht. Eine Frau meckert ständig an der Kleidung eines Mannes herum. Der Mann zieht ein Kleidungsstück nach dem anderen aus, aber nichts gefällt der Frau. Zum Schluss steht er mit nacktem Oberkörper vor ihr. Sie kneift in den Hüftspeck des Mannes und sagt: „Und was ist das?“ Die weißen Wände heben sich und geben den Blick auf den Palmengarten frei. Alle Damen und Herren stehen mit Lichtern herum, wie auf einer Stehparty. Ein Mann schwärmt eine Frau an, die aber nur Schlechtes an sich finden kann. Ein Mann schenkt einer Frau einen hübsch eingepackten Autoreifen. Ein Mann trägt eine kleine Tänzerin über die Bühne und wirft dabei kleine Fallschirme in die Luft, die langsam wieder zu Boden schweben. Ein Mann pustet eine Feder aus einem Rohr und saugt sie später wieder hinein. Die Männer tragen große Palmkronen wie Blütenkelche auf die Bühne. EinTänzer schiebt eine Tänzerin in einer Schubkarre über die Bühne. Ein Mann sitzt in einem Palmblatt und rudert mit einem anderen Blatt. In einem Videofilm fliegt der Zuschauer mit über Flüsse und Wälder. Die Männer und Frauen bilden eine Kette, jeder hat eine Regenrinne, Folie oder ein Rohr dabei. Zusammen schaffen sie eine Wasserleitung zu legen und Wasser fließt. Ein Mann und eine Frau duschen unter dem Wasserstrahl. Dieses Spielchen wird aber immer wieder von einem Herrn in schwarz verboten. Zu einem Wasserfall-Videofilm beginnt eine Wasserspuck, -sprüh und –fontänen-Orgie. Dann kommen die weißen runden Tische zum Einsatz und es beginnt der „Schlusstanz mit Tisch“.

 

Água
Ein Stück von Pina Bausch

In Koproduktion mit Brasilien, dem Goethe Institut São Paulo und Emilio Kalil

17.09.2022
18.09.2022
20.09.2022
21.09.2022
23.09.2022
24.09.2022
25.09.2022

VVK
19.05.2022

03.03.2023
04.03.2023
05.03.2023
07.03.2023
08.03.2023
10.03.2023
11.03.2023
12.03.2023
14.03.2023
15.03.2023
17.03.2023
18.03.2023
19.03.2023

 

Bühne / Video
Peter Pabst

Kostüme
Marion Cito

Musikalische Mitarbeit
Matthias Burkert
Andreas Eisenschneider

Probenleitung Neueinstudierung 2022/23
Daphnis Kokkinos
Azusa Seyama-Prioville
Robert Sturm

Mitarbeit Proben Neueinstudierung 2022/23
Rainer Behr
Ditta Miranda Jasjfi
Nyoung Kim
Eddie Martinez
Dominique Mercy
Pascal Merighi
Cristiana Morganti
Héléna Pikon
Fabien Prioville
Jorge Puerta Armenta
Michael Strecker
Fernando Suels Mendoza
Aida Vainieri
Anna Wehsarg
Ophelia Young



Tänzer*innen

Emma Barrowman, Dean Biosca, Naomi Brito, Maria Giovanna Delle Donne, Taylor Drury, Çağdaş Ermiş, Silvia Farias Heredia, Nayoung Kim, Reginald Lefebvre, Alexander López Guerra, Nicholas Losada, Milan Nowoitnick Kampfer, Julie Shanahan, Ekaterina Shushakova, Fernando Suels Mendoza, Franko Schmidt, Oleg Stepanov, Christopher Tandy, Tsai-Wei Tien, Sara Valenti, Tsai-Chin Yu



Uraufführung
12. Mai 2001 Opernhaus

Regina Advento, Fabien Prioville, Jorge Puerta Armenta, Azusa Seyama, Julie Shanahan, Michael Strecker, Fernando Suels Mendoza, Kenji Takagi, Aida Vainieri, Héléna Pikon, Cristiana Morganti, Pascal Merighi, Rainer Behr, Silvia Farias Heredia, Ditta Miranda Jasjfi, Daphnis Kokkinos, Eddie Martinez, Melanie Maurin, Dominique Mercy, Anna Wehsarg, Nayoung Kim

2016 Paris
2012 London
2011 Taipeh
2010 Athen
2010 Edinburgh
2007 Venedig
2006 Reykjavik
2003 Lissabon
2003 Amsterdam
2002 Paris
2001 São Paulo
2001 Rio de Janeiro


eingestellt am: 18.09.2022