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182 - TANZ - ECTOPIA - Richard Siegal, Levk

Oleg Stepanov • Ectopia • Choreographie Richard Siegal 2021 • aufgeführt mit Shooting Into the Corner (2008–09) von Anish Kapoor und einer Auftragskomposition von Alva Noto
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 Evangelos Rodoulis © Anish Kapoor • All rights reserved BILDKUNST, 2021

 


Bericht über die Uraufführung von

 

von Dietmar Wolfgang Pritzlaff

Das Wort „Ektopie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Außerörtlichkeit“. In der Medizin ist es eine Verlagerung von Gewebe an eine ungewöhnliche Stelle innerhalb des Körpers oder auch an seine Oberfläche, an der sich dieses Gewebe üblicherweise nicht befindet.

Die „Außerörtlichkeit“ ist schon allein durch die Tatsache begründet, dass das Tanztheater Wuppertal nach der Überschwemmung des Opernhauses Wuppertal eine neue Uraufführungs-Bleibe gesucht und mit dem Forum Leverkusen auch gefunden hat.

„Außerörtlich“ ist auch die Symbiose von Tanztheater, Lichtdesign, Bühnendesign und bildender Kunst in einem Bühnenstück. Das hat man so nicht erwartet und bisher noch nicht auf einer Opernbühne zusammen gesehen.

Da ist zum einen der amerikanische Tänzer und Choreograf Richard Siegal, der mit dem Ensemble des Tanztheaters Wuppertal, diesen Tanzabend inszeniert hat. Richard Siegal ist Gründer und künstlerischer Leiter von „The Bakery“, einer interdisziplinären Plattform für Performance-Kunst mit Sitz in Köln.
2016 gründete Siegal zusammen mit „ecotopia dance productions“ die Tourneegruppe Ballet of Difference mit dem Ziel, dem Ballett im 21. Jahrhundert neue Relevanz zu verleihen. Das Unternehmen hat seinen Sitz in München und Köln.
Außer der Inszenierung ist der Choreograf auch für die Kostüme in diesem Stück verantwortlich.
Er arbeitete mit dem Musiker Avo Noto und dem Lichtdesigner Matthias Singer schon mehrfach zusammen. Zum Beispiel in den Stücken: „Ballet of Obedience“, „Triple“, „New Ocean Sea Cycle“ oder „UNITXT“, welche mit dem Schauspiel Köln im Depot 1 und 2 aufgeführt wurden.
Ausgezeichnet wurde er mit dem „New York Dance and Performance Bessie-Award", dem Deutschen Theaterpreis „der faust“, dem „s.a.c.d“-Preis (Beau-marchais) und dem „Mouson Award“. Außerdem erhielt er 2012 den „Tanzpreis der Landeshauptstadt München“.

Die Musik stammt von dem deutschen Avantgarde-Techno-Tüftler und Hollywood-Filmmusik-Produzenten Carsten Nicolai alias Alva Noto, ein 54-jähriger Musiker, aus Chemnitz stammend. Er schafft elektronische Kompositionen und Klangräume.

Ensemble • Ectopia • Choreographie Richard Siegal 2021 • aufgeführt mit Shooting Into the Corner (2008–09) von Anish Kapoor und einer Auftragskomposition von Alva Noto
Foto ©
 Evangelos Rodoulis© Anish Kapoor • All rights reserved BILDKUNST, 2021

 

Ein weiterer Künstler ist Matthias Singer. Er gestaltete schon außergewöhnliche Lichtinstallationen für die Münchner Kammerspiele oder der Münchner Club-Szene.

Und noch ein Künstler gibt sich die Ehre: Anish Kapoor, geboren 1954 in Mumbai, Indien. Er ist weltweit bekannt für seine beeindruckenden Monumentalskulpturen aus ungewöhnlichen Werkstoffen, Skulpturen aus Farbpigmenten und monochromen Rauminstallationen.
Sein 2008-09 kreiertes Werk „Shooting into the Corner“, zu deutsch “in die Ecke schießen“ erlebt man zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Tanztheater Wuppertal. Es besteht aus einer Kanone, die Zylinder aus zähflüssigem Wachs in die Ecke des Raumes schießt. Die Kanone wird von den Tänzer*innen bedient. Schwere Wachszylinder in die Röhre gesteckt, der Abschuss-Luftdruck aufgebaut und „KNALL“ und wieder sieht die beschossene Ecke und die getroffenen Wände ganz neu aus. Die dabei entstehenden „Skulpturen“ / „Farb-Kleckse und -spritzer“ / „Gemälde“ sind einmalige Kunstwerke. Bei jeder neuen Aufführung des Tanzabends wird man eine neue Wachs-Skulptur entstehen sehen. Man sollte also jede Aufführung gesehen haben, um das erstandene Kunstwerk in seiner Gesamtheit zu sehen.

Dean Biosca, Tsai-Wei Tien • Ectopia • Choreographie Richard Siegal 2021 • aufgeführt mit Shooting Into the Corner (2008–09) von Anish Kapoor und einer Auftragskomposition von
Alva Noto • Foto ©  Oliver Look© Anish Kapoor. All rights reserved BILDKUNST, 2021

 

Für den Tanzabend ECTOPIA kamen gleich vier außergewöhnliche Kunstsparten zusammen. Tanztheater, Licht-, Klang- und Objektkunst. Geht das zusammen? Die Antwort: „Das geht! Und wie das geht!“

Die besondere Lichtkomposition, der elektronische Klangtepppich, die außergewöhnliche Inszenierung und immer wieder die aufschreckenden Schüsse aus der Kanone machen diesen Tanzabend zu einem wahren Kunstgenuss, obwohl man sich immer wieder erschreckt, wenn die Kanone mit lautem Knall die schweren Wachsgeschosse abfeuert. Bizarre Formen und Farben entstehen an den Wänden und dem Boden.

Die Tänzer*innen agieren in fast durchsichtigen Kostümen aus seidigen Kunststofffließen. Sie sehen wie umgestaltete Abfalltüten aus, aber sie rascheln nicht hörbar.
Die Damen tragen bauchfreie Leibchen und kurze Hosen. Die Herren oben ohne oder auch mit Leibchen und Pluderhosen. Alle tanzen oder besser rutschen Barfuß über die Bühne. Die Farbe des Schieß-Wachses haftet nach einiger Zeit an Händen, Füßen und Kleidung der Tänzer*innen. Das wirkt wie Blutbeschmiert nach einem Schlachtfest.

Naomi Brito • Ectopia • Choreographie Richard Siegal 2021 • aufgeführt mit Shooting Into the Corner (2008–09) von Anish Kapoor und einer Auftragskomposition von Alva Noto
Foto © Klaus Dilger© Anish Kapoor. All rights reserved BILDKUNST, 2021

 

Die Tänzer*innen in diesem Stück sind blutjung und ganz neu im Ensemble des Tanztheater Wuppertal. Dean Biosca, Naomi Brito, Maria Giovanna Delle Donne und Taylor Drury kamen erst in der Spielzeit 2020/2021 dazu.
Seit 2020 ist Alexander Lopez Guerra fest in Wuppertal. Im Jahr 2000 wurde Azusa Seyama Mitglied im Ensemble. Seit 2016 ist Oleg Stepanov und seit 2015 Tsai-Wie Tien mit dabei.
Kein Tänzer und keine Tänzerin der „alten Pina-Schule“ ist in diesem neuen Stück zu sehen.
Mehr Infos zu den Tänzer*innen sind unter den Links ganz unten zu erhalten.

Der Tanzabend ist eine große Kunst-Performance, wobei die Wachskanone der heimliche Star des Abends ist. Diese Performance löst in dem Zuschauer bedrohliche, angstvolle Gefühle aus. Eine gewisse Unruhe von Anfang bis zum Ende wird erlebbar. Der Bühnenboden ist „verdammt“ rutschig und wirkt nicht nur glatt und flutschig, er ist es wohl auch wirklich, denn jeder der Tänzer*innen ist in den Bewegungen dadurch eingeschränkt. Alle Bewegungen werden äußerst langsam und sparsam ausgeführt. Zeitenlupenbewegungen. Man fürchtet, dass die Tänzer*innen ausrutschen könnten. Darf ein Ausrutscher passieren? Das ist wohl nicht geplant.
Die großen und „wilden“ Bewegungen aus den Stücken von Pina Bausch bleiben aus. Dafür werden wir bei diesem Stück Zeuge von Langsamkeit und Behutsamkeit. Mal bewegen die Tänzer*innen nur ihre Finger und Hände, mal nur den Kopf und immer gleichen die Bewegungen einem Balanceakt. Das ist bestimmt für die Tänzer*innen sehr anstrengend und das überträgt sich auf das ganze Werk. Kein leichtes Stück, das man zurückgelehnt gern beobachtet, sondern ein Werk, dass dem Zuschauer ein gewisses Unbehagen bereitet, vor allem durch die elektronische Geräuschkulisse und dem Lichtdesign hervorgerufen. Die Zuschauer erleben einen "Tai Chi-Tanzabend" mit Zeitlupenbewegungen in Anspannung und Entspannung. Die Zuschauer stehen mit unter dieser Anspannung, bis sich die Bühnenwand zum Schluss wieder senkt.

Ein beeindruckendes Werk, aber nicht leicht verdaulich. Das Meditationsstück erfordert Geduld, obwohl das Stück nur 73 Minuten lang ist. Trotzdem unbedingt sehenswert!

Ensemble Applausfoto Ectopia • Choreographie Richard Siegal 2021 • aufgeführt mit Shooting Into the Corner (2008–09) von Anish Kapoor und einer Auftragskomposition von Alva Noto
Foto © Dietmar Wolfgang Pritzlaff
• © Anish Kapoor. All rights reserved BILDKUNST, 2021

 

ca. 73 Minuten – ohne Pause

Licht im Zuschauerraum aus, die Bühnenwand hebt sich, auf der Bühne steht auf der linken Seite am Bühnenrand zu den Zuschauern, die große Wachs-Zylinder-Kanone auf einem Holzgestell mit Pressluft-Kammern, die Öffnung der Kanone zeigt schräg nach hinten in die Ecke, an der rechten Seite sind gestapelte Wachszylinder auf vier Paletten gestapelt, die rechte hintere Ecke ist schon mit rotem Wachs beschossen worden, der Wachs liegt Zentimeterhoch auf dem Boden / eine Frau beginnt zu tanzen / der Bühnenboden ist überall rutschig und Wachsbeschmiert (von den Proben) / die Kostüme der Tänzer*innen scheinen aus Kunststofftüten zu bestehen / ein Mann beginnt seinen Tanz, die noch eben tanzende Frau steht still (wie ein angehaltener Film, oder ein Standbild aus einem Film) / Mann und Frau „stieren“ sich an / eine weitere Frau kommt mit einer Art Rutschschritt auf die Bühne = Verse zuerst, rutscht und findet Halt, schreitet weiter / die erste Frau liegt auf dem Bühnenboden / manchmal tragen die Tänzer Tütenleibchen, manchmal oben ohne / ein Mann steht vor der Kanone / der Tänzer Oleg Stepanov in einer schwarzen „Tütenhosen“, oben ohne / eine Frau trägt Bedeutungsschwanger einen Wachszylinder über die Bühne zur Kanone / die Tänzer*innen bewegen sich langsam, behutsam, vorsichtig, nur kleinste Bewegungen mit Beinen, Füßen, Armen, Hände und Finger, die sich drehen und winden / der Tänzer Oleg Stepanov öffnet den Schacht der Kanone, die Frau übergibt ihm den Wachszylinder und rutscht weg, der Tänzer befüllt den Kanonenschacht mit dem Wachszylinder, das Wachs wird mit einem Stab mit runder Scheibe aus dem Zylinder in den Kanonenschacht gedrückt, der Tänzer verschließt den Schacht und öffnet den Hebel zur Pressluftkammer, man hört die Pressluft einströmen bis der richtige Druck aufgebaut ist, alle Tänzer*innen bringen sich in sicheren Abstand zur Kanone, Oleg legt einen Hebel um und – Schuss – Nummer 1, das Wachs fliegt in hohem Bogen über eine Tänzerin hinweg, die auf dem Boden liegt, in die rechte hintere Ecke und „zermatscht“ in der Ecke, Teile fliegen auf den Boden und zerfließen langsam / Licht unter dem Wachshügel glimmt auf, es sieht wie flüssige Lava jetzt aus / Licht auf der Bühne wird langsam heller, wie ein Sonnenaufgang / elektronische Geräuschkulisse, anstatt Musik / die Tänzer*innen tanzen oftmals mit gleichen Bewegungen in verschiedene Richtungen / Licht unter dem Wachshügel aus / immer wieder kommen die Tänzer*innen zum Stillstand, verharren in der gerade eingenommenen Position / die Männer liegen auf dem Bühnenboden, die Frauen hocken neben ihnen, schlagen sich auf den Oberschenkel und kratzen mit einer Hand die Schenkel hinauf / zwei Männer tanzen mit gleichen Bewegungen / alle Tänzer*innen rutschen auf ihren Versen umher / eine Frau bringt wieder einen Wachs-Zylinder zur Kanone / Oleg befüllt die Kanone, alle anderen Tänzer*innen stehen vor der Kanone, dann bringen sie sich in Sicherheit, Oleg schießt Kanone ab – Schuss – Nummer 2 / Licht aus / rotes Licht an, die Bühne strahlt in rosarotem Licht / ein Mann im Hintergrund im Versen-Rutschgang, im Vordergrund nur eine schwarze Silhouette einer Tänzerin / ein Mann „umgarnt“ eine Frau mit seinen Bewegungen, dann machen es mehrere Pärchen / ein Mann „animiert“ eine Frau, in ihrem Stillstand, seine Bewegungen mitzumachen / das Wachs ist schon auf der Kleidung der Tänzer*innen, im Licht wirkt das rote Wachs an den Wänden und auf dem Boden, wie nach einem Schlachtfest / Licht aus / kaltes weißes Licht wieder an / die langsamen Bewegungen erinnern an Tai Chi-Bewegungen zu elektronischem Klangteppich / Tänzer*innen „verbiegen“ ihre Hände, dann nur Bewegungen mit ihren Knien / eine Frau steht still, ein Mann hält sich an ihrem Tütenhosenbund fest und rutscht auf der Stelle mit den Füßen / eine bedrohliche Atmosphäre, Angst, Unruhe / ein Paartanz, manche Bewegungen gleichen einem Abtasten der Luft / immer wieder Stillstand der Bewegung, stehend, sitzend, hockend / eine Frau bringt wieder einen Wachszylinder zur Kanone, Oleg stopft Kanone und Schuss – Nummer 3 in die Ecke / zwei Frauen und ein Mann in Rutschbewegungen vor dem Wachshügel in der Ecke / eine Frau bringt wieder einen Wachszylinder zur Kanone, Oleg schießt – Schuss – Nummer 4 / kaltes weißes Licht / eine Frau tanzt vor der Kanone, ein Mann kommt dazu, dann tanzen alle, bewegen sich wie Schlittschuhläufer auf Eis / alle Tänzer*innen stehen in einer Reihe vor der hinteren Wand / Licht aus, Musik aus / Licht wieder an / die Tänzer*innen liegen übereinander vor hinterer Wand, sie lösen sich langsam aus dem Knäuel / eine Frau bringt wieder einen Wachszylinder zur Kanone, Oleg schießt – Schuss – Nummer 5 / Oleg klettert auf das Kanonengestell und balanciert und tanzt darauf, er „präsentiert“ seinen nackten Oberkörper / andere Frauen sehen ihm zu mit langsamen Bewegungen / eine Frau steigt in zwei leere Wachs-Zylinder / eine Tänzerin auf Stöckelschuhen bewegt sich vorsichtig über den rutschigen Bühnenboden (eine Kunst darauf zu gehen), wie eine Schamanin in Tanz-Ritualen / Oleg steht auf dem Kanonengerüst, zwischen seinen Beinen das Kanonenrohr / die Frau in den leeren Wachszylindern rutscht auf der Bühne / eine Frau auf Stöckelschuhen macht einen Spagat / Oleg steht vor der Kanone und schiebt seinen Kopf in das Kanonenende, er zieht seinen Kopf wieder heraus und legt sich vor die Kanone / eine Frau befüllt die Kanone und schießt – Schuss – Nummer 6 / Licht aus, bis nur diffuses Licht, langsam wird es wieder heller, wie bei einem Mondaufgang, die Scheinwerfer werden herabgesenkt und in den Zuschauerraum gestrahlt, die Lichter blenden die Zuschauer, die Kanone wird herumgedreht und die Tänzer*innen richten sie auf das Publikum, alle Tänzer*innen stapeln leere Wachszylinder-Hüllen übereinander vor das Publikum, stellen sich dann in eine Reihe neben die Kanone, die Bühnenwand senkt sich dazu herab / Ende / die Bühnenwand fährt wieder nach oben / volles Licht / Applaus

 

Ectopia von Richard Siegal

Uraufführung 2021, aufgeführt mit SHOOTING INTO THE CORNER (2008-09) von Anish Kapoor

Mit dem Forum Leverkusen haben wir eine ideale Spielstätte in der Nähe von Wuppertal gefunden, die es uns ermöglicht -  trotz der vorübergehenden Schließung der Wuppertaler Oper -  vor Publikum zu spielen.

Für die Wuppertaler Zuschauer wird ein Shuttle-Service vom Opernhaus Wuppertal zum Forum Leverkusen und zurück eingerichtet. Dieser kann beim Ticketkauf für 5€ verbindlich gebucht werden.

Nur noch zwei Termine im Forum, Leverkusen:
10.11.2021
11.11.2021

VVK
17.09.2021

Choreographie
Richard Siegal

Shooting into the Corner (2008-09)
Anish Kapoor

Kostüme
Richard Siegal

Musik
Alva Noto

Licht Design
Matthias Singer

Probenleitung
Barbara Kaufmann

Assistenz
Anastasia Grigore

 

Uraufführung
06. Nov 2021 - Forum Leverkusen

Besetzung:
Dean Biosca, Naomi Brito,Maria Giovanna Delle Donne,Taylor Drury, 
Alexander Lopez Guerra, 
Azusa Seyama, Tsai-Wei Tien, Oleg Stepanov

 


eingestellt am: 08.11.2021