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180 - TANZ - Neue Intendanz, Wuppertal

Boris Charmatz • Foto © Sébastien Dolidon

 

Bericht von der Pressekonferenz am 21.10.2021


von Dietmar Wolfgang Pritzlaff

Im Mai 2017 einstimmig vom Beirat des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch als neue Intendantin eingestellt, kam für viele überraschend im Dezember 2018 der Rausschmiss von Adolphe Binder. Nach unschönen Querelen mit dem damaligen Geschäftsführer Dirk Hesse, kam die Sache vor Gericht und es wurde einer späteren Kündigung außergerichtlich zugestimmt. Adolphe Binder soll sich mit Geschäftsführer Dirk Hesse wohl nicht verstanden. Dirk Hesse soll eine fristlose Kündigung ausgesprochen haben. Frau Binder soll keinen neuen Spielplan vorgelegt haben oder zu spät. Kosten von über 1 Millionen Euro für das ganze Verfahren und die Abfindung von Adolphe Binder durfte die Stadt Wuppertal verbuchen. Das Verfahren wurde erst im Januar 2020 mit einem außergerichtlichen Vergleich beigelegt.

Nach Adolphe Binder folgte am 01. Januar 2019 Bettina Wagner-Bergelt als neue Intendantin des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch mit dem Berater ‚Roger Christmann. Als Doppelspitze leiteten sie zusammen das Tanztheater. Sie wurde mit dem Tanzpreis 2016 der Landeshauptstadt München, dem Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres im Jahr 2014 und dem Kinder zum Olymp-Preis ausgezeichnet. Sie ist Vorstandsmitglied des Bayerischen Landesverbands Tanz BLZT und des Dachverbands Tanz Deutschland DTD.
Im Sommer 2021 endete das zweieinhalbjährige Engagement von Bettina Wagner-Bergelt und Roger Christmann.

Gesucht wurde eine neue „künstlerische Geschäftsführung“ mit künstlerischer Persönlichkeit und mehrjähriger erfolgreicher Leitungserfahrung, für einen Fünf-Jahres-Vertrag mit einer Verlängerungsoption.

Boris Charmatz, geboren am 03.01.1973 in Chambéry, ist ein französischer Tänzer und Choreograph.
Boris Charmatz' Eltern arbeiteten als Lehrer, sie erzogen ihn politisch (sein Vater war Überlebender des Holocaust) und gaben ihm auch deutsches Kulturgut mit auf den Lebensweg. Charmatz studierte klassisches Ballett von 1986 bis 1989 an der École de danse der Opéra National de Paris und danach am Konservatorium Lyon. Seit 2008 leitet er das Centre chorégraphique national in Rennes, dass er als „Musée de la danse“ deklarierte und unter diesem Titel eine Gruppe gründete.
Er arbeitet mit Tänzern wie Régine Chopinot, Odile Duboc, Olivia Grandville und Meg Stuart.[2] 1993 brachte die von ihm gegründete Gruppe „edna“ als erstes Stück A bras-le-corps. Mit Raimund Hoghe und Julia Cima produzierte er 2006 Régi. 2009 montierte er Posen von Merce Cunningham zu einem Flip Book.
Für das Festivaljahr 2011 wurde er in die künstlerische Leitung des Festival d'Avignon gewählt. Er selbst präsentierte in dem Jahr das neue Stück Enfant und eine Neubearbeitung von Levée des conflits.
In dem 2013 von Anne Teresa De Keersmaeker choreografierten Duo Partita 2 (zu Bachs Musik) traten beide auf. Im November 2013 gastierte das „Musée de la danse“ unter dem Titel Three Collective Gestures mit mehreren Arbeiten von Charmatz im MoMA. Die Ausgabe 2014 der Berliner „Foreign Affairs“ zeigte sechs Werke Charmatz', darunter als einen Parcours durch die (Tanz-)Geschichte 20 Dancers for XX Century auf dem Gelände des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park. Die Ruhrtriennale beauftragte ihn für 2014 mit einem Stück über das Essen: manger.

Boris Charmatz wünscht sich, dass die Werke von Pina Bausch zum UNESCO-Weltkulturerbe wird und das eine tiefe französisch-deutsche Zusammenarbeit durch ihn entsteht.

Am liebsten wäre ihm ein Stück im Freien, Nachts, ohne Bühnenbild und ohne Kostüme zu inszenieren und mit mit dem Ensemble gemeinsam zu tanzen.
Er möchte die Stücke von Pina Bausch neu interpretieren, eine neue Sicht auf das außerordentliche Werk der Tanz-Legende von Wuppertal zeigen, für eine neue Generation, für eine neue Zeit. „Die Möglichkeit am Unmöglichen zu arbeiten“. Ersetzen könnte man Pina Bausch nie, genauso wenig wie einen Picasso.
Er zitiert Pina Bausch die einmal sagte: „Wuppertal ist eine Stadt des Alltags und keine Sonntagsstadt“. Daran wird er sich in Wuppertal wohl immer erinnern müssen.
Der Spielplan für die Spielzeit 2022/2023 wäre schon fertig, aber danach würde er gerne eigene Inszenierungen mit einbringen.

 

Boris Charmatz: „Wie ein Tänzer sehe ich nicht aus“ | Arte TRACKS

Boris Charmatz - 10000 Gestures - Trailer

Boris Charmatz / Musée de la danse - Sadler's Wells is Dance

Boris Charmatz - manger

Boris Charmatz - Enfant

Boris Charmatz – à bras le corps [TEASER]

Boris Charmatz, Emmanuelle Huynh, Odile Duboc – boléro 2 / étrangler le temps [TEASER]

 

Zu neuen Ufern: Boris Charmatz als neuer Intendant für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch vorgeschlagen

Der Aufsichtsrat des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch hat heute den Tänzer und Choreographen Boris Charmatz einstimmig als neuen Intendanten des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch vorgeschlagen. Vorbehaltlich des formalen Beschlusses des Finanzausschusses der Stadt Wuppertal wird Charmatz die Leitung der Kompanie im September 2022 mit Beginn der neuen Spielzeit antreten.
Die Aufgabe von Boris Charmatz als Intendant des Tanztheaters besteht darin, neue Werke für das Ensemble zu kreieren und ihm dabei Raum für die künstlerische Freiheit zu geben. Er hat die Aufgabe, ein neues Fundament für die Arbeit zu schaffen, die mit dem Werk von Pina Bausch verbunden wird.

Dem Beschluss vorausgegangen war die Arbeit einer Findungskommission aus Expert*innen, Vertreter*innen der Stadt Wuppertal, des Landes Nordrhein-Westfalen und des Ensembles. Unter dem Vorsitz von Bürgermeister Heiner Fragemann gehörten der Kommission Dr. Rolf-Jürgen Köster (Stadt, Aufsichtsrats-Mitglied), Bruno Heynderickx (Hessisches Staatsballett Darmstadt Wiesbaden), Claire Verlet (Programmleitung Tanz, Théâtre de la Ville, Paris), Ruth Amarante und Christopher Tandy als Tänzer*innen und gewählte Ensemble-Vertreter*innen sowie Bettina Milz vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen an.
In einem aufwändigen Verfahren fanden Gespräche mit führenden internationalen Choreograph*innen und Künstler*innen statt. Am Ende fiel das Votum der Findungskommission einstimmig für Boris Charmatz. Dem schloss sich der Aufsichtsrat in seiner heutigen Sitzung ebenfalls einstimmig an.
Aus Sicht der Verantwortlichen bringt Boris Charmatz auf besondere Weise all das mit, was für den Zukunftsprozess erforderlich ist: Mut und eine starke künstlerische Arbeit, in der er sich immer wieder neu erfindet, strategische Klarheit, Sensibilität und Respekt für das herausragende Werk von Pina Bausch und das Ensemble, ein internationales Netzwerk und eine sehr fundierte Expertise in den Künsten. 

„Der gesamte Findungsprozess wurde in engem Austausch mit dem Ensemble realisiert. Für alle ist dieser Schritt in die Zukunft wichtig. Bei der Suche nach einer neuen künstlerischen Leitung waren es die Arbeitsstrukturen, die die Künstlerin Pina Bausch selbst geschaffen hat, die wir als Erbe betrachten und für die es neue Horizonte im 21. Jahrhundert zu schaffen gilt. Diese Arbeit war geprägt von künstlerischem Mut und der Suche nach unbekanntem Terrain, von der Reise als Form der Neugier auf die Menschen, die Künste und Kulturen dieser Welt. Es war auch ihr tiefer Humanismus, der die besondere Wirkung der Werke ausgemacht hat. Und die Perspektive auf den Körper und die Bewegung, die nicht nur den Tanz, sondern auch das Theater und die Künste insgesamt verändert hat“ erklären Ruth Amarante und Christopher Tandy. „Es war die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen, die Interdisziplinarität und nicht zuletzt eine starke Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft an der herausragenden Kunst.“

Boris Charmatz ist Tänzer und Choreograf. Er zählt weltweit zu den wichtigsten Erneuerern der Tanzkunst. Seine Arbeiten sind auf den großen Bühnen und Festivals der ganzen Welt vertreten, er war Associated Artist beim Festival D`Avignon 2011, Gast der Pariser Oper hat eng mit Ausnahmekünstler*innen wie Anne Teresa De Keersmaeker, Meg Stuart, Tino Seghal und vielen anderen internationalen Künstler*innen zusammengearbeitet. Neben seinen Bühnenarbeiten hat er Stücke und Performances im öffentlichen Raum vieler Städte sowohl in Frankreich wie auch in Europa präsentiert, zuletzt in Manchester, Berlin und Brüssel.  Er hat seine Arbeit in bedeutenden Museen gezeigt, so im MoMA in New York, der Tate Modern in London und auf der Triennale von Mailand. Boris Charmatz zeichnet sich dadurch aus, dass er in seinen Arbeiten stets künstlerische Risiken eingegangen ist, dabei den Tanz gewürdigt, erneuert, ihn kühner gemacht hat.

Darüber hinaus ist die Bewahrung der choreografischen Geste einer der Schwerpunkte der Arbeit von Boris Charmatz. Unter seiner Leitung wurde das Centre Choréographique de Rennes et de Bretagne zwischen 2009 und 2018 zum lebendigen „Musée de la danse“. Denn im Gegensatz zu anderen Künsten kann Tanz nur bewahrt werden, wenn er verkörpert wird. Deshalb bringt Boris Charmatz aus der Sicht der Verantwortlichen der Kommission exzellente Voraussetzungen mit, um Repertoire und neue Kreationen zu verbinden, diesen beiden Säulen des Tanztheater Wuppertal Raum zu geben und sie gemeinsam zum Erfolg zu führen.

„Mit Boris Charmatz ist es uns gelungen, eine Künstlerpersönlichkeit für Wuppertal zu gewinnen, die internationale Ausstrahlung mit einer tiefen Lust verbindet, das Erbe Pina Bauschs mit einem Neuaufbruch für das Ensemble zu verbinden. Das große Interesse, sich dabei gleichzeitig auf die besondere Qualität der Wuppertaler Geschichte einzulassen, macht Boris Charmatz zur idealen Wahl“, sagt Wuppertals Oberbürgermeister Uwe Schneidewind.

Wie auch Salomon Bausch mit der Pina Bausch Foundation und dem Archiv sieht Boris Charmatz seine Aufgabe mit dem Ensemble als ein Zukunftslabor für den Tanz. Aus der Geschichte, dem Werk, der herausragenden Arbeit Pina Bauschs, aber auch der Folkwang Tradition insgesamt, gilt es Neues für die Kunstform wie auch für die Gesellschaft zu entwickeln. 

Eine neue Verantwortung, die Boris Charmatz mit Enthusiasmus angeht: „Pina Bausch zeigt uns den Weg: in einer post-industriellen Umgebung arbeiten, die Jungen und die Älteren bei der Arbeit am Repertoire integrieren... Sich niemals mit dem Erreichten zufrieden geben… Unerwartete Gesten jenseits der ästhetischen Erwartungen erfinden… Risiken nicht scheuen… Das Ensemble hat in seiner Arbeit bereits eine neue Entwicklung gezeigt: Choreografen wurden eingeladen, Kinder haben in Wuppertal getanzt, der Parkplatz neben dem Schauspielhaus und der Skulpturenpark wurden für hochrangige Künstler zur neuen Bühne. Ich bewundere das sehr; vielleicht bewundere ich noch mehr die unglaubliche Energie, die die Kompanie seit zwölf Jahren, menschlich und künstlerisch zeigt, um diese Kunst unter Beteiligung aller hoch zu halten. Wuppertal ist Ort der  Avant-Garde, ich will dorthin laufen und dortbleiben. Und gemeinsam entfesseln wir einen kollektiven Wirbel, der die Kreation befördert.“

Boris Charmatz will das Ensemble zu einer Tanzkompanie entwickeln, die sich als ein binationales deutsch-französisches Projekt versteht, in dem sich besonders das Land Nordrhein-Westfalen und die Region Hauts-de-France verbinden. Diese beiden Regionen sind kulturell und politisch gezeichnet durch die industrielle Revolution, von dem einschneidenden Ende des Kohleabbaus und der Textilindustrie, ebenso durch die damit verbundenen Migrationsbewegungen. Das Ensemble bleibt in Wuppertal beheimatet, und die Zusammenarbeit mit dem zweiten Arbeitsstandort in Frankreich ermöglicht es, ein lebendiges Projekt über Fragestellungen einer europäischen Zusammenarbeit ins Leben zu rufen.

Die Zukunft des Tanztheaters besteht sowohl in der Konzentration auf das bestehende Werk als auch auf Neuschöpfungen: die kühne und angemessene Verbindung der Arbeit der Erneuerin des Tanzes Pina Bausch und der Pflege ihres Repertoires mit der choreografischen Arbeit von Boris Charmatz erlaubt die Öffnung neuer Horizonte.

Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen: „Pina Bausch hat eines der bedeutendsten künstlerischen Werke der letzten 100 Jahre geschaffen, das ausgehend von Nordrhein-Westfalen weltweite Wirkung entfaltet hat. Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch soll auch in Zukunft ein starker Ort für die Tanzkunst und die Choreografie sein, an dem das besondere kulturelle Erbe Pina Bauschs lebendig und erfahrbar bleibt. Dies kann nur gelingen, wenn eine herausragende Künstlerpersönlichkeit diese Arbeit verantwortet und in die Zukunft trägt. Mit seinem gleichermaßen innovativen wie sensiblen Umgang mit der Geschichte des Tanzes bringt Boris Charmatz beste Voraussetzungen mit, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können.“

Das künftige Pina Bausch Zentrum, das 2027 eröffnet werden soll, wird die zukünftige Basis sein. Die Aufgabe von Boris Charmatz besteht darin, gemeinsam mit den anderen Akteuren das Projekt zu entwerfen, Impulse zu setzen, seine Arbeiten zwischen Repertoire und Kreation zu entwickeln und die bauliche Entwicklung des Ortes zu verfolgen.
Das Pina Bausch Zentrum wir ein Ort der Bewahrung und Entwicklung dieses nationalen und internationalen Kulturerbes sein. Und weil das Werk von Pina Bausch nur durch die Pflege ihres Repertoires in Verbindung mit einer künstlerischen und kreativen Recherche und neuen Kreationen erhalten werden kann, wird es für kommende Generationen nur zugänglich sein, wenn es vom Tanztheater und anderen großen Ensembles getanzt wird und so in die Zukunft wirkt.

„Mir ist es wichtig, dass die Kompanie nun wieder von einem Choreografen geleitet wird“, so Salomon Bausch, Gründer und Vorstandsvorsitzender der Pina Bausch Foundation. „Ich bin sehr neugierig auf die künstlerischen Impulse für das Ensemble und für Pinas Stücke. Mit Blick auf die Zukunft und das Pina Bausch Zentrum werden wir gemeinsam Grundlagen für die langfristige Qualität und Verbreitung des Werks meiner Mutter schaffen.“

 


eingestellt am: 21.10.2021